Die Neisse
University
Von
Katharina
Weßels
Nach langer
Vorarbeit und vielen steinigen,
bürokratischen Wegen wurde im
Jahre 2001 mit der Immatrikulation
des ersten Studienjahrs die Neisse
University geboren. Das ist ein
trinationales Projekt dreier
Hochschulen, jeweils aus
Tschechien (Technische Universität
Liberec), Polen (Politechnika
Wroclawska) und Deutschland
(Hochschule Zittau-Görlitz),
welches bisher einmalig in Europa
und somit als Pilotprojekt
betrachtet wird. Die Universität
ist virtuell; das heißt, sie hat
keinen festen Standort sondern ist
immer dort, wo ihre Studenten
gerade sind. Der Studiengang nennt
sich „Informations- und
Kommunikationsmanagement“ und
befasst sich hauptsächlich mit
Informatik und Wirtschaft. Pro
Jahr werden jeweils 10 Studenten
aus allen drei Ländern zum Studium
zugelassen und verbringen das
erste Jahr in Liberec, Tschechien;
das zweite Jahr im polnischen
Jelenia Gora und gehen im dritten
Jahr erst ins Praxissemester und
danach für das letzte Semester
nach Görlitz, Deutschland. Das
englischsprachige Studium schließt
nach sechs Semestern mit dem
Bachelor ab.
Die Neisse
University – eine virtuelle
Hochschule, die gut als
Forschungsobjekt dienen könnte, da
sie mehr als jede andere
internationale Einrichtungen
kulturelle Gemeinsamkeiten wie
auch Unterschiede auf besondere
Art und Weise dem Betrachter
deutlich macht.
Wer an diesem
3-Länder-Projekt teilnimmt, will
den Blick über den Tellerrand
wagen, mal gucken, was DIE so
anders machen, ob Vorurteile und
Prototypen sich bewahrheiten und
mal von der üblichen Studienwahl
absehen. Das Studienfach spielt
dabei vielleicht eher eine
2.Rolle. Irgendwas mit Wirtschaft
und Medien soll es sein, das sagt
zumindest der Name; Hauptsache
raus aus der grauen Heimat und mal
etwas andere Luft schnappen. Doch
untypische, fremde Vorkommnisse
lassen nicht lange auf sich
warten, und nun heißt es „Augen zu
und durch“ oder einfach
akzeptieren lernen.
Da treffen
ungefähr zwei Hände voll junger
Leute jeweils aus Polen,
Deutschland und Tschechien
aufeinander; neugierig beobachten
sie die fremden Nachbarn, anders
aber als ein eintägiger Besuch im
Land nebenan hat man sich
vorgenommen, das Gegenüber
wirklich kennen und mögen zu
lernen. Schließlich steht das
Zusammenleben in einem 60er Jahre
Bau, das als Wohnheim dient und
sich am Stadtrand der grenznahen
Stadt Liberec befindet, bevor. Der
Verlauf des ersten Jahres sieht
viele Partys, gemeinsame
Unternehmungen und Vertilgen von
jeder Menge Alkohol vor. Man
befindet sich in Tschechien, das
Bier kostet ein paar läppische
Kronen, das ist also nichts
Ungewöhnliches. Noch dazu haben
wir es hier mit Studenten zu tun.
Nach einem Jahr
sieht alles schon anders aus. Man
spricht von Freundschafts- und
Pärchenbildung. Gemeinsame
Unternehmungen werden immer noch
gern organisiert, vielleicht sogar
mehr als sonst, denn man hat den
Standort gewechselt. Von einer
tschechischen Studentenhochburg
kommt man zur polnischen Provinz.
Ein kleines Schulgebäude und nur
eine Hand voll scheinbar stummer
polnischer Studenten sind nun
Mittelpunkt eines jeden Tages.
Während man in Liberec wirklich
oft auf fahrbare Untersätze
angewiesen war um von A nach B zu
kommen, liegt in Jelenia Goras
Ortsteil Cieplice alles ganz nah
zusammen. Nur ein paar Schritte
sind nötig und der Wocheneinkauf
ist erledigt. Das ist auf der
einen Seite sicher vorteilhaft für
viel beschäftigte Studenten, führt
aber schnell zu einem
einheitlichen Muster eines
durchschnittlichen Tages dieser
etwas anderen europäischen
Gemeinschaft. Deshalb hat man
einen Plan erschaffen, der
Langeweile durch gemeinsame
Partys, Wanderungen oder Besuche
diverser kultureller Einrichtungen
ablösen soll.
Nach einem Jahr
hat man auch die Kulturanalyse
kennen gelernt. Das Gegenüber aus
dem anderen Land wird erforscht,
Unterschiede werden aufgedeckt und
diskutiert. Das ist so spannend
und fördert zudem auch das
intensivere Befassen mit dem
Nachbarland.
Mathematikprüfung.
Während sich für den Deutschen
noch bei Exercise 1 die
Aufgabenstellung zu verstecken
scheint und, falls er sie
irgendwann findet, dann versucht
sie panisch zu verstehen (ein
wichtiges Wort, siehe weiter
unten), ist der polnische
Kommilitone bereits 5 Aufgaben
weiter, kurz und prägnant schreibt
er auf, was er weiß und selbst im
Schlaf können würde und geht über
zur nächsten Aufgabe. Alles ganz
„easy“, hatte man bereits in der
Schule, und das mehr als
ausführlich. Taschenrechner oder
Formelbuch? - Ha, wozu denn, man
hat ja schließlich einen gut
funktionierenden Kopf, getrimmt
auf Formeln und Fakten. Der
deutsche Kollege schließt nun mehr
oder minder erfolgreich mit
Aufgabe 1 ab, nicht aber ohne
einen ausführlichen Antwortsatz,
vielleicht bringt der ja ein oder
zwei Punkte, die wiederum dazu
beitragen könnten, diese verflixte
Prüfung mit Ach und Krach zu
bestehen. In der tschechischen
Gruppe ist die
Matheprüfungssituation eher
durchwachsen. Hier gibt es kein
typisches Muster, von
„ausgezeichnet“ bis „leider nicht
bestanden“ ist alles dabei. Ein
chronisches, tschechisches
Achselzucken schließt sich der
Arbeit an. Auf polnischer Seite
wird es von einem weiteren „easy“
abgelöst, während der Deutsche die
Welt nicht mehr versteht und auf
gemeinsame Lösungssuche geht. Die
ist übrigens ebenfalls chronisch.
Doch wie sieht es
mit dem Lernen für einen Test oder
Prüfung aus? Wie schlagen sich da
unsere internationalen Kollegen?
Auch hier sind ganz typische
Unterschiede zwischen Polen auf
der einen und Deutschland/
Tschechien auf der anderen Seite
zu erkennen. Der polnische
Kommilitone nimmt mindestens 2 bis
3 Tage vor der Prüfung seine
Unterlagen in die Hand und lernt
sie ganz einfach und unkompliziert
auswendig. Bei der Prüfung selbst
kommt alles bei 3 wie aus der
Pistole geschossen. Und ehrlich,
da kommt alles, aber auch wirklich
alles, was in den Heftern
Unterlagen steht. Der
Lehrer oder Professor hat es bei
dieser Methode besonders leicht,
er braucht nicht erst mit der
Interpretation des
Niedergeschriebenen zu beginnen,
sondern nur zu vergleichen und
viele, viele Punkte zu vergeben.
Kommen wir nun zum
deutsch-tschechischen Standpunkt.
Beliebt bei dieser Gruppe ist das
magische Wort „Verstehen“.
Manchmal schon eine Woche, öfter
aber auch erst einen Tag vor der
Prüfung setzt man sich vor seine
Hefter und fängt an zu lesen. Nach
5 Zeilen verschwimmt förmlich die
Schrift, man denkt wieder zurück
an den Urlaub an der Ostsee, Mann,
der war toll, so viel Sonne und …
Huch, und da hat man sich doch
tatsächlich ablenken lassen.
Zurück zum Anfang der Seite und
nochmal alles lesen. Das
Wichtigste hierbei: ich will
verstehen lernen. Was der „Prof.“
in der Vorlesung mir nicht
begreiflich machen konnte, soll
nun der eigene Verstand probieren.
Wenn überhaupt das Buh-Wort
„Auswendiglernen“ fällt, dann wird
es ganz böse niedergemacht, ja
fast schon verhöhnt (das ist ja
uncool…). Mal will schließlich den
Stoff verstehen, behalten und
irgendwann mal anwenden können.
Ja, ja, „verstehen“, wenn das doch
so einfach wäre. Denn wenn es dann
irgendwie doch „klick“ macht und
man voller Freude die Bücher
zuschlägt, ist die nächste Hürde
gar nicht so fern, nämlich die
Prüfung selbst, in der man dann
das mühevoll Verstandene vom
Vortag versucht in Worte zu
fassen. Entweder es gelingt oder
endet in einem Wirrwarr von deng-
oder tschenglischen Wörtern. Nun
beginnt auch der härtere Teil des
Korrigierens seitens des
Professors. Fern ab vom schnellen
Vergleich und einem zufriedenem
Lächeln, der scheinbar perfekten
Übereinstimmung wegen, ändert sich
nun der positive Gesichtsausdruck
zu einem verwirrten Stirnerunzeln
und hilflosen Schopfkratzen. Der
Lehrkörper muss jetzt auch
anfangen zu verstehen (oder eben
nicht) - Im Großen und Ganzen also
eine Wechselwirkung von verstehen
und verstanden werden.
Der Unterschied
zur polnischen Arbeit liegt ganz
eindeutig bei den Punkten. Die
„Versteher“ haben es nämlich oft
schwerer, wirklich alle nötigen
Fakten wiederzugeben und verlieren
so wichtige Punkte. Und dann
versteht man plötzlich gar nichts
mehr.
Übrigens, oft
haben die Versteher aber einen
anderen Vorsprung, und zwar in der
Form. Sie sind große Fans von
übersichtlicher Struktur und
Linealbenutzung. Das gefällt dem
Lehrkörper, und da kommt es
endlich auch auf dieser Seite zu
(Plus)Punkten. Und noch ein Punkt
für diese Seite: Während man
auswendig gelernten Stoff ganz
schnell wieder vergisst, bleiben
verstandene Fakten viel länger im
klugen Köpfchen.
Doch Schluss jetzt
mit dem Analysieren und
Vergleichen: in einem verstehen
sich alle blind. Gemeinsam Spaß
haben. Es wird gefeiert, gelacht,
gesungen, fast schon kitschig aber
doch so schön. Nach vielen, vielen
Schlücken haben sich alle restlos
lieb, sind ausgelassen und
vergessen wenigstens für kurze
Zeit Form und Formeln.
Und eines darf man
bei alle dem erst recht nicht
vergessen: Ausnahmen bestätigen
die Regel.
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